F12 – Teil 4

Es stellte sich heraus, dass Sean betrunkener war als sie – anders konnte Amber es sich jedenfalls nicht erklären, dass er den Mut besaß, sie an den Hüften zu packen und sie an sich zu ziehen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren küsste er sie auf den Mund, ein paar Zentimeter kleiner als er, stellte sie sich auf die Zehenspitzen um sofort zu erwidern. Er war leidenschaftlich aber auch fordernd, er liess sie nicht los und drückte sie an seinen warmen Körper. Amber hatte nicht damit gerechnet und es doch gehofft. In ihrem Kopf verglich sie den Kuss mit den Vorstellungen, die sie schon vorher von diesem Moment hatte. Vorerst war sie nicht enttäuscht. Aber eine Unruhe machte sich in ihr breit, noch während seine Hände über ihre Hüften fuhren. Er war unberechenbar, er erschien ihr immer noch wie ein wildes Tier. Wahrscheinlich waren sie beide nur stark betrunken. Amber konnte die Zuneigung, die sie für ihn empfand nicht mehr zurück halten, sie legte die Arme um seinen Hals und versuchte die Realität an ihre Träume anzupassen. Atemlos mussten sie beide den Kuss unterbrechen.

“Wie lange hast du mich schon beobachtet? 4 Monate? 5 Monate?” beim Reden stieß Sean kleine Wölkchen in die kalte Nachtluft aus, er lächelte spöttisch und liess sie dabei trotzdem nicht los.
“Ich weiß nicht, wann ich angefangen habe, dich zu lieben.” Amber sagte das ohne zu überlegen, merkte aber wie diese Worte sofort eine Reaktion ihn ihm auslösten.
“Liebe? Davon kannst du schon reden, obwohl wir uns heute erst kennen gelernt haben?”
Ihr wurde die eigene Dummheit dieser Bemerkung bewusst, gleichzeitig wusste sie auch, dass sie keine treffendere Bezeichnung für ihre Zuneigung zu ihm fand.
“Ich kenne dich schon länger als 5 Monate, über das Internet folge ich dir seit einem Jahr. Irgendwann habe ich dich einmal bei einer Demo gesehen. Und seitdem…inspirierst du mich.”

Ihre Worte waren leise, sie sah ihm dabei nicht in die Augen, unsicher ob er ihre Reaktion vielleicht lächerlich fand.
“Du bist also mein Fangirl? Das schmeichelt mir ungemein.”, er lachte und strich ihr dabei vorsichtig eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Irgendwie verletzte Amber diese Bemerkung.
“Aber ich glaube nicht an Liebe. Oder sagen wir es mal so – ich wurde zu oft enttäuscht, als das ich noch daran glauben möchte. Wenn du aber willst, können wir gerne andere Dinge tun, ohne Verpflichtungen…”, er wollte sie noch einmal küssen, doch sie wies ihn ab.
“Du glaubst nicht daran? Aber du bist doch jemand, der sich für die Sachen einsetzt, an die er festhält.”
“Das gilt vielleicht für meine Ideale. Aber Liebe gehört nicht dazu. Und ich glaube du siehst das ähnlich. Frag nicht warum, aber das ist so ein Gefühl, dass ich habe…”, seine Augen schienen jetzt zu glühen. Das orange Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in ihnen wieder. Die Kälte in dieser Nacht war beißend und Amber spürte zum ersten Mal, seit sie den Pub verlassen hatte, dass sie fror.
“Ich glaube da schätzt du mich falsch ein.”
Sie musste auf einmal erkennen, dass das Bild, was sie von ihm hatte nicht zu der Realität passte. Der Schock saß tief, aber Sean liess nicht von ihr ab.
“Du bist süß, ich könnte mich auf jeden Fall mit dir arrangieren…”
Amber wusste, dass sie genau das nicht wollte. Ein Arrangement, dass nur auf Kompromissen beruhte. Vielleicht würde sie nur eine von vielen werden. Jemand wie er war bestimmt darauf bedacht, noch andere Eisen im Feuer zu haben.
Vielleicht war er enttäuscht von der Liebe, aber das war sie auch. Trotzdem wollte sie nicht aufgeben und weiter zu den Dingen, an die sie glaubte stehen. Sie musste wohl einsehen, dass sie mehr Kämpfer war, als er selbst.

Vorsichtig löste sich Amber von ihm, gab ihm noch einen Kuss auf die Lippen.
“Es ist spät, wir sind beide betrunken und ich muss heim.”, sie lächelte schüchtern und schlug die Augen nieder. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie festhalten würde, doch Sean nickte nur.
“Da du mir ja auch im Internet folgst… Wirst du dich melden?”, in seiner Stimme schwang etwas Hoffnung mit.
“Natürlich.”, sie schulterte ihre Handtasche und drehte sich um.
Als ihre Silouette im Schein der Neuköllner Straßenlampen langsam verschwand, wusste Sean, dass er sie nie wieder sehen würde.